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Der Körper muss für die Seele leiden

Ruhr Nachrichten 18.09.2002

Hamburg/Aachen (dpa/gms) - Immer mehr junge Menschen fügen sich absichtlich Schmerzen zu. "Es gibt eine eindeutig steigende Tendenz", sagt Birger Dulz, der die Borderline-Station im Klinikum Nord in Hamburg leitet. Sich verbrennen, die Haut mit Säure verätzen, Lösungsmittel unter die Haut spritzen. "Das so genannte Schnippeln an den Armen ist aber die häufigste Form der Selbstverletzung."
 
Mit 16 schnitt sich Julia zum ersten Mal mit dem Küchenmesser Wunden in die Arme. Warum weiß die heute 19-Jährige aus Hamburg nicht mehr genau. Tagelang saß sie allein in ihrer Wohnung. "Ich war damals wie in Trance", erinnert sie sich. "Ich musste mir Schnitte zufügen, um zu merken, dass ich überhaupt noch am Leben bin." Den Schmerz zu spüren, habe ihr eine seltsame Art der Erleichterung verschafft.
 
"Die meisten Betroffenen beginnen in der Pubertät, sich mit Messern oder Rasierklingen Schnittwunden zuzufügen", sagt Professor Sabine Herpertz von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Aachen. Mädchen seien sechsmal so häufig betroffen wie Jungen. Genaue Zahlen seien schwer zu erheben. Herpertz schätzt die Zahl der Betroffenen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf 1,5 Prozent der Bevölkerung.
 
Die Patientinnen schildern der Therapeutin zufolge häufig quälende Spannungszustände. Oft fühlten sie eine Mischung aus Angst, Wut, Panik und Selbsthass. Das Schneiden sei ein Mittel, seelische Spannungen abzubauen. Julia schnitt sich manchmal drei oder vier Mal am Tag, dann wieder eine Woche lang gar nicht. Sie nimmt an, sie habe ihren seelischen Schmerz mit körperlichem zu betäuben versucht. Sie habe es aber auch eingesetzt, um die Aufmerksamkeit ihres Freundes zu bekommen. "Es war ein Druckmittel, ihn dazubehalten", sagt sie.
 
Meist leiden Betroffene unter einer so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörung. "Das ist eine Beziehungsstörung, die sich unter anderem in extremen Stimmungsschwankungen äußert", erklärt Experte Dulz. Häufig stünden Borderline-Störungen mit schweren Traumatisierungen in Zusammenhang. Eine Ursache ist Sabine Herpertz zufolge sexueller und körperlicher Missbrauch. Auch "schwere emotionale Vernachlässigung" sei ein möglicher Grund.
 
Es gibt aber auch Jugendliche, die sich bei Mutproben Schmerzen zufügen. "Man weiß das aus Kinderheimen oder von Klassenfahrten, dass es selbstverletzendes Verhalten auch als Klassenphänomen gibt", so Herpertz. Eltern und Lehrer sollten das in diesem Fall nicht dramatisieren, sagt die Expertin. Aufmerken sollten sie erst, wenn ein Jugendlicher zu Hause allein zum Messer greift.
 
Doch selbst wenn die Wunden bereits auf der Haut sichtbar sind, erfahren Freunde und Eltern nur selten von dem Problem. "Meine Freunde haben das nicht mitgekriegt. Ich habe die Narben gut versteckt. Es war mir peinlich", erzählt Julia. Sabine Herpertz weiß, dass Selbstverletzer oft behaupten, es sei die Katze gewesen, wenn Mitschüler, Eltern oder Lehrer nachfragen. Wenn das Vertrauen der Kinder zu ihren Eltern durch Missbrauch zerstört ist, sei es kaum möglich, der Familie Hilfe anzubieten, sagt Herpertz. Daher sei es wichtig, dass in der Schule auf Zeichen von Selbstverletzungen geachtet werde. "Die Schule ist sicher der Ort, wo das am ehesten zu beobachten ist", sagt auch Claudia Rewitz von der schulpsychologischen Beratungsstelle in Konstanz. Gerade im Sportunterricht rutsche leicht mal ein Ärmel des Pullis nach oben. Auch wenn eine Mitschülerin selbst bei 30 Grad Hitze ständig langärmlige Kleidung trage, sollten sich Freunde und Lehrer die Frage stellen, was mit ihr los sei. Am sinnvollsten sei es, sich an den zuständigen Beratungslehrer zu wenden. Gemeinsam könne dann überlegt werden, wie man an die Betroffene herantreten könne. In Projektwochen könne zusätzlich Aufmerksamkeit für das Thema Selbstverletzung geschaffen werden. Auch das Einladen von Fachleute aus Kliniken oder Beratungsstellen kann Rewitz zufolge helfen, Schüler aufzuklären.
 
Hilfe bieten Sabine Herpertz zufolge Frauenselbsthilfegruppen oder die kommunalen Familienberatungsstellen. Laut Fachmann Dulz ist auch der sozialpsychiatrische Dienst von Kommunen und Wohlfahrtsorganisationen eine mögliche Anlaufstelle. Julia ermutigt Betroffene, Therapiemöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Freunden und Angehörigen rät sie, den Kontakt zu Betroffenen zu suchen und die Hoffnung nicht aufzugeben. Birger Dulz und Sabine Herpertz zufolge sind die Heilungschancen heute weitaus besser als noch vor einigen Jahren. Für mehr als die Hälfte der Patienten stehe die Chance auf ein Leben ohne Selbstverletzungen sehr gut. Dabei gelte: Je früher eine Therapie begonnen werde, desto besser.
 

Originallink: http://www.news.de/356/23Der_Koerper_muss_fuer_die_Seele_leiden.html, 18.09.2002
online nicht mehr verfügbar
 

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