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Schwerbenhaufen

Hexe, 15 w
 

Mein Scherbenhaufen begann mit 11 Jahren. Nein. Er begann viel früher. Die Selbstverletzung ist nur das Resultat aus dem Scherbenhaufen, der sich mein Leben nennt. Im Jahre 1995 wurde ich geboren. Ich war ein gesundes, großes Baby. Anhänglich und sehr quängelnd, wenn ich etwas nicht bekam. Meine großen Augen zogen schon damals besondere Aufmerksamkeit auf sich. Bis ich 18 Monate alt war, sollte alles gut gehen. Doch dann kam der erste Schlag: Meine Mutter erlitt zwei Bandscheibenvorfälle auf einmal, lag mehrere Nächte vor Schmerzen weinend im Bett. Meine Schwester, die zwei Jahre älter ist, und ich saßen an ihrem Bett, hielten ihre Hand und fragten, was los sei. Kinder in diesem Alter geben sich für alles die Schuld. Wenn drei Meter von ihnen entfernt etwas herunter fällt, denken sie, sie sind schuld. Das ist die normale Entwicklung. So war es auch bei mir: Ich gab mir die Schuld für die Krankheit meiner Mutter. Schließlich wurde sie spät abends mit dem Krankenwagen abgeholt. Mein Vater nahm mich von der Liege, auf der meine Mutter lag, und blieb mit mir und meiner Schwester in der Auffahrt stehen, während meine Mutter in den Krankenwagen geschoben wurde. Der Wagen fuhr langsam die Straße hinunter, verschwand aus meinem Blickfeld. Ich muss geschriehen haben, wie am Spieß. Doch es half nichts.
Meine geliebte Mutter, an der ich schon früh so sehr hing, sollte für 9 Montate fort bleiben. Jede Nacht war eine Qual für mich und meine Familie. Ich schrie jeden Abend, weinte mich in den Schlaf. Neun lange Monate hindurch.
Nach der besagten Zeit kam meine Mutter wieder nach Hause. Die Arbeiterinnen der Sozialstation begleiteten uns über zwei Jahre hindurch. Immer wieder musste meine Mutter in Kliniken und zu Untersuchungen in ganz Baden-Württemberg und Bayern. Im Alter von drei Jahren zeigten sich die ersten Folgen des Erlebten: Ich bekam heftige Wutanfälle, schrie und schlug um mich. Seit dem meine Mutter wieder zurück war, schlief ich nicht ein, wenn sie nicht neben mir stand. Bis zu meinem 13. Lebensjahr habe ich nie irgendwo ohne sie übernachtet, jedenfalls nicht ohne Weinkrämpfe von über drei Stunden und großer Verzweiflung. Für eben jene erste Folgen lachte man mich seit der Entstehung aus: Für meine Wutanfälle, meine Angst und meine verzweifelten Schreie nach meiner Mutter. Noch heute kann ich die Stimme meines Vaters in meinen Ohren hören, wie er meine Schreie nachäfft und meine Schwester daneben lacht. Ich bin niemandem dafür böse. Meine Schwester wusste es nicht besser, sie war damals auch noch ein Kind. Mein Vater ist ein Gefühlstollpatsch, wie ich es zu sagen pflege. Er hat selbst nie Liebe erfahren dürfen.
Meine Kindergartenzeit war - abgesehen von den Verlustängsten - eine schöne. Jedenfalls im Vergleich zu meiner Schulzeit. Die erste Klasse verlief recht angenehm ohne einschneidende Erlebnisse. Ich verbrachte jede freie Minute mit meiner Besten Freundin, die ich seit der Krabbelgruppe kannte. Heute sehe ich sie nur noch einmal im Jahr, wenn wir grußlos aneinander vorbeilaufen, uns zufällig im Dorf begegnet sind. Wir spielen Menschen, die sich nie in ihrem Leben gekannt haben. In der zweiten Klasse begann der Albtraum: Meine beste Freundin, die mir ewige Freundschaft geschworen hatte, wendete sich von mir ab. Ich stand alleine da. In der dritten Klasse begann das Mobbing. Warum? Nun, ich war anders. Ich ritt für mein Leben gerne, turnte sehr gut und war eine gute Schülerin. Vielleicht waren sie eifersüchtig. Vllt hassten sie mich auch einfach für das, was ich war.
Der Schulwechsel auf das Gymnasium brachte Veränderung. Ich trug nicht mehr länger die abgetragenen, ausgeleierten Kleider meiner Schwester, sondern bettelte meine Mutter an, enge, angesagte Jeans tragen zu dürfen. Ich suchte mir meine Kleider von nun an eigenständig aus, kombinierte weiterhin selbst. Ich genoss große Beliebtheit, wurde nur ab und zu mit meinem Pferdeeifer geneckt. Vermutlich habe ich diesen wundervollen Tieren einiges zu verdanken. Sie gaben mir immer den Mut, weiter zu machen. Ab meinem fünften Lebensjahr hatte ich Suizidgedanken, die mich mein Leben lang begleiten sollten. Die Pferde und meine Katze gaben mir immer den Halt, den ich von menschlichen Wesen nicht erwarten konnte.
Gegen Anfang der sechsten Klasse kam ich mit meinem ersten Freund zusammen. Wir waren das erste Paar der Klasse und dementsprechend immer Stoff der neusten Gerüchte. Im Nachhinein ist diese Geschichte recht amüsant, wie zwei Kinder eine ganze Klassenstufe verwirren können =). Weniger amüsant war das, was mir im Frühjahr der sechsten Klasse im Alter von 11 Jahren widerfuhr: Mein Großvater hatte mich an einem Nachmittag, an dem wir alleine waren, angefasst. Nicht so, wie es ein Großvater zu tun pflegt. Er startete einen sexuellen Übergriff auf mich. Ob er mich vergewaltigt hat, weiß ich nicht. Mir fehlt jegliche Erinnerung. Ich weiß nur den Anfang und das Ende dieses Geschehens, wie ich wieder auf dem Sofa saß. Es gibt Anzeichen, dass er mich vergewaltigt haben muss.  Beispielsweise das Blut in meiner Unterhose, welches von sichtbaren Verletzungen im Intimbereich stammte. Genau wissen werde ich es erst, wenn ich wieder einigermaßen stabil bin. Erst dann wird meine Therapeutin mit mir dieses Thema aufarbeiten.
Dieses Erlebniss war nicht die einzige schlechte Erfahrung im sexuellen Bereich: Zuvor hatte auch mein Cousin begonnen, mich mit mehr als nur freundschaftlichen Berührungen anzufassen. Mein zweiter Freund in der siebten Klasse musste die schlechte Erfahrung machen, dass ich kräftig zuschlagen konnte, wenn er mir zu nahe kam. Mehr als einmal hat er es nicht gewagt.
Das war der gröbste Teil des Scherbenhaufens. Nach dem Übergriff meines Großvaters beann die Selbstverletzung. Suizidversuche und Gedanken daran hatte ich schon längst. Mit 14 folgte mein fünfter Versuch, diesmal jedoch ernsthaft. Die Selbstverletzung erhielt eine lange Pause, die ca. drei Jahre andauerte. Mit 14 erinnerte ich mich an das Gefühl des Schmerzes, die ersten Depressionen klopften an meine Türe. Im Oktober begann ich, mich täglich zu schneiden. Im Dezember folgte der Suizidversuch. Anschließend kam ich in eine Klinik, das war im Januar. Ich böieb fünf Wochen, bis ich abbrach. Die Sehnsucht war enorm, dazu plagten mich die Verlustängste. Ende Februar wurde ich entlassen. Ich schaffte es, mich drei Wochen nicht zu verletzen. Anschließend begann das Theater von vorne, diesmal jedoch tiefer. Im Juli war ich bei einer Tiefe von 1.6 cm angelangt, hatte innerhalb von 14 Tagen 10 Kilo verloren. Ich sollte wieder in eine Klinik. Doch es kam der Sommer. Meine Freunde gaben mir Halt. Jeden Tag war ich im Stall bei meinem Pferd. Er gab mir die Kraft, weiter zu machen. Den Morgen verbrachte ich im Stall, den Abend bei meinen Freunden. Sie fingen mich auf, wenn ich zu fallen drohte. Dafür möchte ich ihnen danken: Leute, ihr seid die Besten! Ende August kam mein erstes großes Festival. 40 000 Leute, 100 Künstler und vier Tage. Das Summer Breeze 2010 war eine geniale Erfahrung. Seit ich 13 bin, treibe ich mich in der Szene herum. Es begann mit einem Konzert einer Mittelalterband, anschließend wurde ich von einem Metaler mit zu einem großen Treffpunkt an der frischen Luft geschleppt. Dort treffen sich im Sommer bis zu 200 Jugendliche aus verschiedensten Szenen: Von Hippies über Punks, zu Metalern und Goths bishin zum Cyber. Diese Leute, vorallem die Goths und Metaler gaben mir enorm viel. Jeder hier hat seine eigenen Probleme, jeder war mindstens schon einmal in psychologischer Behandlung. Und doch halten wir zusammen und geben einander Kraft. Es ist die vermutlichst besten Freunde, die man haben kann.
Der Sommer war eine wunderschöne Zeit für mich. Auch, wenn es schwierig war, meine Arme und damit die Wunden immer zu verstecken, gerade in der Schule. Ich schaffte es, mich bis Ende Oktober nicht zu schneiden. Dann kam der Rückfall.
Ich feierte meinen 15. Geburtstag mit einigen Freunden nach. Wir trafen hier per Zufall noch einige andere Freunde, mit denen wir in eine Kneipe gingen. Wir waren zu zehnt, ich war die einzige Minderjährige. Daher kam ich auch in die Kneipe. Der Abend war angenehm. Bis wir anfingen, uns über Politik und später auch über die Todesstrafe zu unterhalten. Ich argumentierte gegen die Todesstrafe, eine Freundin dafür. Ein Freund, der nicht zu meiner Gästeliste gezählt hatte, stieß dazu. Er wusste von meiner Vorgeschichte, jedenfalls von dem sexuellen Übergriff. Leider hat er ADHS, was uns diesmal zum Verhengnis wurde. Seine Argumente waren ebenfalls für die Todesstrafe. Ich war wie gesagt dagegen. Darauf hin stellte er mir jene Aufgabe: Ich sollte mir vorstellen, wie meine Schwester vergewaltigt würde. Die Überlegung sollte sein, was ich mit dem Täter machen wolle. Nun, ich hatte genügend Stärke und Kraft gesammelt, um ihm ins Gesicht sagen zu können, das dieses Thema nicht geeignet wäre, nicht für mich. Er drängelte weiterhin mit der Aufgabe. Nun, ich widersprach ihm dreimal. Dann war meine Reserve aufgebraucht. Ich verlies die Kneipe, rannte hinaus. Meine Schwester mir hinterher. Er kam später noch, um sich zu entschuldigen, doch es war zu spät. Wir holten meine Gäste, zahlten und verließen fluchtartig die Kneipe. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause kam. Man erzählte mir später, ich sei völlig in trance den Weg entlang gestakst und hätte später der Uhr eine Stunde lang zu gesehen, wie sie weiter lief. Irgendwann schob meine Schwester mir die Notfalltropfen in den Mund, die ich immer auf Lager hatte. Anschließend konnte ich mich mit Skills wieder 'ins Leben' rufen. Am nächsten Tag jedoch folgte der Schnitt. Zwei Wochen später der nächste. Und widerum zwei Wochen später war ich wieder komplett ins alte Muster zurück verfallen. Über Silvester war ich wieder in einer Klinik, als Kriesenintervention. Ich wurde in den Time-out gesteckt, starke Suizidalität. Nichtmals mehr alleine auf die Toilette durfte ich gehen. Nach sechs Tagen Kampf hatte ich meine Eltern soweit, dass sie mich abholten. Zuhause verletzte ich mich wieder, wie ich es die Wochen zuvor getan hatte. In der Klinik wurde mir mit der Fixierliege gedroht, sollte ich mich verletzen. War ich erst entlassen, schnitt ich mir die Arme wieder bis zu einer Tiefe von 1.6 cm auf, schüttete mir kochendes Wasser über die Arme und verbrannte mich mit dem Räucherstäbchen.
Dort stehe ich jetzt. Genau das ist es, was ich gerade tue. Die Suizidgedanken sind noch immer da. Doch ich brauche erst einen konkreten Plan, ehe ich es wieder versuchen kann. Momentan bin ich auf der Suche nach einer hoch genugen Brücke. Jedoch habe ich versprochen, mich bis zum März nicht umzubringen. Solange kann ich nur planen.

Mein Leben ist ein Scherbenhaufen. Ich will Teil von ihm werden. Ich lebe in ihm. Er ist mein Käfig. Er schneidet mich blutig. Ich lebe das, was ich bin: Ein Scherbenhaufen.

Ich möchte solange schon aufhören. Doch es geht nicht. Noch nicht. Ich hoffe auf den Sommer. Denn dann werde ich das gleiche wieder erleben: Pferd, Freunde, Festivals. Vielleicht schaffe ich dieses Jahr den Durchbruch. Ich hoffe es.

 

08.01.2011
 

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